Mittwoch, 28. Januar 2009

Miami Circle

Gisela Ermel

Rätselhafter Kultort hält Stadt in Atem - Spekulationen um seltsamen "Zufallsfund"

In: Mysteries, Nr.8, März/April 2005, Basel 2005



Sommer 1998. Zwischen malerischen Wolkenkratzern und dem blauen Meer der Biscayne Bay buddeln ein paar Archäologen und freiwillige Helfer auf einem Abrissgelände der Stadt Miami in der Erde nach Indianerartefakten.





Archäologischer Ausgrabungsplatz in Miami



Die Ausgräber unter der Leitung von Robert Carr, dem Direktor der Miami-Dade-County Historic Preservation Division, werden nicht enttäuscht. Unzählige Tonscherben, verkohlte Holzfragmente, Perlen, Tierknochen, Feuersteinstücke und vieles mehr können sie ans Tageslicht befördern. Doch dann ist es vorbei mit der Ruhe.

An einem dieser friedlichen Tage nämlich macht Ted Riggs - Hobby-Archäologe und ehemaliger Bewohner des Apartmentgebäudes aus dem 50er Jahren, das hier abgerissen worden war - einen unerwarteten Fund. Just an dem Platz, an dem ein hypermoderner zweitürmiger Hochhauskomplex entstehen soll, entdeckt er ein paar merkwürdige rechteckige Löcher im Kalksteinfelsboden.

Riggi stutzt. Waren diese Löcher tatsächlich angeordnet wie ein Bogen? Sollten sie etwa insgesamt eine grosse Kreisform bilden? Nachdem er seine "Chefs" auf die Entdeckung aufmerksam gemacht hat, gräbt ein Schaufelbagger seine metallene Klaue ins Erdreich, immer entlang der roten Linie, die Riggs mit fluoreszierender Farbe gezogen hatte.

Fieberhaft arbeitet man weiter und stösst dabei auf einen merkwürdigen 12 Meter Durchmesser messenden Kreis von etwa 20 bis 30 mehr oder weniger rechteckigen Löchern.



Erbe eines verlorenen Volkes?

Was hatte man da freigelegt? Wer hatte diese Löcher geschaffen? Natur oder Menschenhand? Hatte man gar die Reste eines mysteriösen prähistorischen Monumentes gefunden? Womöglich gar das Vermächtnis eines verlorenen Volkes?

Ted Riggs sollte später in Interviews immer wieder erzählen, was ihm damals durch den Kopf gegangen war: "Das sieht aus wie ein Negativ von Stonehenge! Statt Steinsäulen - Löcher!"





Rätselhafter Fund: Kreis von Löchern im Kalksteinfelsboden



Die Archäologen taten, was sie immer dann tun, wenn sie einen rätselhaften Fund machen: Sie kontaktieren per Telefon, Fax und Internet all ihre Kollegen in der ganzen Welt, um sich mit ihnen darüber auszutauschen, ob es schon einmal irgendwo einen ähnlichen oder identischen Fund gegehen hatte. Ergebnis: Es gab nichts Vergleichbares.

Im Winter 1999 war es mit der Ruhe am Ausgrabungsplatz definitiv vorbei, als sich Ted Riggs an die Medien wandte. Am 20. Dezember kabelte der TV-Sender CNN die Nachricht in alle Welt: "Mysteriöser Steinkreis am Ufer des Miami River ausgegraben!"

Die Archäologen, so hiess es, seien uneins über Ursprung und Bedeutung dieses rätselhaften Stonecircle. Die Vermutung, dass man es aufgrund der gefundenen Artefakte wohl eher mit einer ehemaligen Tequesta-Indianer-Siedlung zu tun habe, rückte mehr und mehr in den Hintergrund.



Astronomisch ausgerichtet

Stattdessen machte bald eine andere Spekulation die Runde. Der Cirlce sei ein astronomischer Himmelskalender! Entdecker Ted Riggs habe festgestellt, dass der Kreis in Nord-Süd-Ausrichtung angelegt worden sei und die Löcher einst wohl Steinpfosten enthalten hätten. Die Anlage habe seiner Meinung nach den Maya einst als Observatorium gedient, las man bald darauf im "Miami Herald".







Ted Rigg's Maya-Theorie erschien in etlichen Zeitungen



Die Medienberichte mobilisierten die ganze Stadt. Vor allem interessierten sich Reporter für zwei Steinäxte, die im Circle gefunden worden waren. Äxte, wie man sie sonst nur von den Maya Mittelamerikas kannte.

Schon bald strömten Schaulustige in Scharen zum Ausgrabungsplatz am Brickell Point. Tag für Tag erschienen selbsternannte Experten mit neuen Theorien, Touristen, Geschäftsleute und Büroangestellte aus den nahen Hochhäusern. Ja sogar Hochschulstudenten tauchten auf - mit dem Wunsch, mitzuhelfen oder wenigtens den sonnengebräunten "Relic Hunters" bei der Arbeit zuzusehen.

Die überbordende Begeisterung erhielt schliesslich einen empfindlichen Dämpfer, als der "Miami Herald" am 17. Januar 1999 verkündete: "Vergangenheit in Gefahr!"

Erst jetzt wurde bekannt, dass binnen weniger Wochen die Bulldozer des Grundstückbesitzers das "amerikanische Stonehenge", wie es ein paar Übereifrige bereits getauft hatten, niederwalzen würden.
Weder der Grundstücksbesitzer noch die Stadt Miami schienen willens oder fähig, die Bulldozer aufzuhalten. In einem Akt der Verzweiflung versuchte ein von den Archäologen angeheuerter Bildhauer, einen Abguss der Formation anzufertigen, während neben ihm und den Ausgräbern bereits begeistert über einen antiken UFO-Landeplatz spekuliert wurde, ebenso wie über Maya-Indianer oder über heilige Indianer-Tempel.
Besucher des Plaztes plünderten mit Begeisterung die Abfallhaufen, um Souvenirs mitzunehmen. Die Presse schwelgte in Schlagzeilen und schwärmte: "Amerikas jüngste Metropole, eine Stadt ohne Geschichte, hat nun auf einmal eine ältere und interessantere Geschichte, als irgendjemand sich jemals vorzustellen wagte!" Die Archäologen mussten sich daran gewöhnen, interviewt, gefilmt und fotografiert zu werden.
Endgültig weltbekannt wurde der Miami Circle Ende Januar 1999, als die beliebte Radio Show von Art Bell über das "amerikanische Stonehenge" berichtete und damit eine Schlacht für die Rettung der Anlage einläutete.
Das Bombardement an Anrufen, Faxen und E-Mails erzürnter Circle-Retter war überwältigend. Als dann gar noch eine Abordnung von Seminolen-Indianern den Ausgrabungsplatz aufsuchte, liess der Grundstücksbesitzer das Ausgrabungsfeld mit einem Zaun absperren. Davor wurde geschimpft, meditiert, gebetet und gewacht - ganz Miami schien auf den Beinen zu sein.

Das Logo der "Save the Circle"-Aktion
Um dem Wust an Vermutungen, Theorien, Erklärungen und Spekulationen entgegenzutreten, wurde im Februar 1999 ein Meeting anberaumt, auf dem die Archäologen ihre Ergebnisse und Meinungen kundtun sollten. Vor einem bis auf den letzten Stehplatz besetzten Saal und einem Wald von Kameras und Mikrophonen versuchte Archäologe Richard Carr zunächst einmal, den Kreis zu beschreiben.

Skizze des Miami Circle
So wies er darauf hin, dass im und um den Hauptkreis hunderte, anscheinend wahllos verteilte kleine Löcher gefunden wurden. Alle diese Löcher waren offenbar mit prähistorischen Werkzeugen angelegt worden. Das Bemerkenswerteste aber war die perfekt runde Anordnung der Hauptlöcher.
Euphorie und Zurückhaltung
Wozu hatten all die Löcher einst gedient? Und wie alt waren sie? Als ein Zuhörer auf die astronomische Ausrichtung der Löcher hinwies, war Ted Riggs in seinem Element. Der Kreis sei - erkenntlich an vier sehr grossen und tiefen Löchern, die über den normalen Kreisrand hinausgehen - kardinal ausgerichtet, und darüberhinaus markiere eine Linie kleiner Löcher einen Punkt am Horizont, der ein Sonnwenddatum bezeichne.
Die Archäologen selbst hielten sich mit ihren Meinungen zurück. Man habe noch zu ungenaue und zu wenig Daten. Statt dessen berichteten sie über die Tequesta-Indianer, die im "Miami Herald" bereits als "das verlorene Volk von Florida" vorgestellt worden waren.
Auffallend war, dass man bislang noch nichts gefunden hatte, das die Tequesta-Indianer aus Stein hergestellt hatten. Selbst die beiden Steinäxte aus dem Circle mussten "eingeführt" worden sein, denn das entsprechende Material hierfür gab es erst in weit entfernten Gegenden.
Konnten die Tequesta also überhaupt die Erbauer des Circle gewesen sein? Oder hatten sie den Circle nur vorgefunden und dann für zeremonielle Zwecke genutzt? Ebenso relevant sei, so erläuterte Robert Carr, dass die Tequesta keine Landwirtschaft betrieben hatten. Wozu also hätte ein astronomischer Kalender - wenn denn der Circle überhaupt einer war - dienen sollen?
Wie alt aber war denn nun der Kreis? Robert Carr gab auf dem Meeting bekannt, dass die gefundenen Artefakte auf eine Zeit vor 1000 bis 2000 Jahren verweisen - doch das sage gar nichts aus über die Entstehung des Kreises.
26,7 Millionen US-Dollar!
Am 29. September 1999 überraschte der "Miami Herald" seine Leser schliesslich mit der Nachricht, dass sich der Grundstücksbesitzer und das County auf einen Kaufpreis hatten einigen können: 26,7 Millionen Dollar - gut eine Million Dollar pro Circle-Loch!
Der Miami Circle, im Hintergrund die Statue eines Tequesta-Indianers auf einer Säule
Da immer noch nicht klar war, was der Circle denn nun sei, wurde ein Team von Staatsarchäologen nach Miami geschickt. Und so begannen im Oktober 1999 Ausgrabungen unter Dr. Ryan Wheeler von der University of Florida. Mit modernsten Gerätschaften auf der einen Seite und altbwährter Muskelkraft andererseits sollte das Rätsel um den Circle endgültig gelüftet werden.
Mechanische Stangenbohrer und spezielle Schaufelbohrer kamen ebenso zum Einsatz wie ein Radargerät, das nach unterirdischen Merkmalen zu suchen hatte und feststellen sollte, ob unter der Erde noch weitere Überraschungen schlummerten.
Immer mehr kleine Löcher wurden entdeckt und immer mehr Artefakte kamen zum Vorschein, die allesamt auf ein ungefähres Alter von 1500 bis 2000 Jahre datiert wurden.
Nachdem der Circle nun gerettet war, kehrte auf dem Ausgrabungsplatz endlich wieder Ruhe ein. Keine TV-Helikopter mehr, keine Reporterschwärme - das Interesse der Öffentlichkeit flaute allmählich ab. Dennoch wurden weiterhin neue Theorien aufgestellt. So behauptete ein Archäologe, all die Löcher seien einst Pfostenlöcher für Pfahlbauten gewesen, gruppiert um das Häuptlingshaus - den Circle.
Neue Touristenattraktion
War das Geheimnis um den Miami Circle damit gelöst? Lag hier doch kein amerikanisches "Stonehenge", keine moderne Abwasseranlage, wie Skeptiker spekuliert und kein UFO-Landeplatz, wie andere gehofft hatten? Nichts war klar - alles offen. Die Anlage war zwar gerettet, aber ihr Rätsel nicht gelöst.
Inzwischen gehört der Miami Circle ebenso selbstverständlich zu den Touristenattraktionen wie ein Abstecher in die Everglades. Seit Anfang 2003 kann man auch endlich die ausgegrabenen Artefakte bestaunen. Im Historischen Museum der Stadt werden sie Besuchern stolz präsentiert.
Der Miami Circle - eine unendliche Geschichte? Noch immer dauern die Forschungen an. Und so bleibt der Kreis, was er von Anfang an war: ein Puzzle aus Fakten, Hypthesen, Vermutungen und Spekulationen.
Mehr zum Thema:
Gisela Ermel
Geheimnisvoller Miami Circle
Auf den Spuren eines archäologischen Rätsels
Bohmeier-Verlag, Leipzig 2003
ISBN 3-89094-400-0
86 Seiten, mit Abbildungen
Inhalt:
Sommer 1998: Die Entdeckung
Winter 1998/1999: Die sensationelle Nachricht
Februar 1999: Das erste Meeting, der Circle, die Tequesta
Februar 1999: Erste Rettungspläne und ein Radioexperiment
Februar 1999: Die Steinmetz-Aktion
Februar 1999: Demonstrationen und Spekulationen
Februar / März 1999: Ein erster kleiner Sieg
April 1999: Der Abwasseranlagen-Skandal
Sommer 1999: Der Circle - eine prähistorische astronomische Anlage?
Intermezzo I: Amerikanische Stonehenges
Sommer 1999: Die Basalt-Äxte - Das Aus für die Maya-Theorie?
Intermezzo II: Die phantastischen Moundbuilder
Herbst 1999: Die "Spucknapf"-Theorie
Herbst/ Winter 1999: Der Circle ist gerettet!
2000: Neue Grabungen und noch eine Theorie
2001 bis heute: Neue Pläne, neue Funde und Touristenalltag




















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