Samstag, 17. Januar 2009

Das Chaco-Phänomen der Anasazi-Indianer

Gisela Ermel
Rätselhafter Kultursprung

In: Sagenhafte Zeiten, Nr. 5, Beatenberg 2004





Das alte Anasaziland im Vierländereck - Arizona, New Mexico, Utah, Colorado - des nordamerikanischen Südwestens mit seinen grandiosen Felsformationen, tiefen, fast senkrecht abfallenden Canyonwänden und hohen Sandsteintafelbergen wirkt beinahe wie eine andersweltliche Region und stellt ein auch heute noch grösstenteils unbesiedeltes Gebiet dar, dessen Besucher sich oftmals fragen: Wie kann man hier freiwillig leben? Die Anasazi-Indianer fragten nicht, sondern sie passten sich über einen langen Zeitraum hinweg dieser unwirtlichen Gegend perfekt an.


Archäologen fanden bereits aus der Zeit ab ca. 7000 v.Chr. Hinterlassenschaften von archaischen Jägern und Sammlern. Hinweise auf frühen Feldbau gibt es ab der Zeit um 1900 v.Chr. Zwischen dem 8. und 7. Jahrhundert vor der Zeitwende begannen die Bewohner des Gebietes Körbe zu flechten und später einfache Grubenhäuser zu bauen, während der von Mais dominierte Speiseplan durch den Anbau von Gemüse wie Bohnen und Kürbisse erweitert wurde.







Die Grubenhäuser wurden mehr und mehr zu Siedlungen zusammengeschlossen, und die sogenannten Korbmacher-Anasazi bearbeiteten Holz, Knochen, Muscheln, Steine und Tierhäute. Als schliesslich mehr angebaut wurde, als man verzehren konnte, wurden oberirdische Lagerräume aus einfachem Mauerwerk errichtet. Alles war friedlich (mehr oder weniger), und alles war perfekt. Die Anasazi hatten sich bestens an das rauhe Land mit heissen, trockenen Sommern und eiskalten Wintern angepasst und es verstanden, wiederkehrende Dürreperioden zu meistern. Besser konnte man in diesem Teil der Welt nicht leben.



Der Masterplan


Doch aus diesem Dornröschenschlaf wurden die Anasazi jäh geweckt, um urplötzlich das zu beginnen, was heutige Archäologen ratlos und fasziniert das "Chaco-Phänomen" benannten. Anscheinend übergangslos fingen die Anasazi an, ein Bauprojekt auszuführen, das ein ganzes Team von Architekten, Astronomen, Mathematikern, Bauingenieuren, Maurern, Künstlern, Designern und Geometern entworfen, geplant und durchgeführt haben musste. Bauten sie eben noch einfache Grubenhäuser, so entstanden nun plötzlich grandiose Steinmetropolen, Great Houses, wie sie die Archäologen bewundernd nennen, die wie am Reissbrett entworfen wirken. Die Südwest-Archäologen tauften diese auf die Korbmacherzeit folgende Phase "Chaco-Phänomen" nach dem Chaco Canyon in New Mexico, dem Zentrum dieses aussergewöhnlichen Bauprojektes, und standen vor einem Rätsel: Wie konnte ein solch plötzlicher Kultursprung geschehen? Wer oder was könnte ihn ausgelöst haben?





Der Chaco Canyon - Zentrum des Kultursprungs der Anasazi


Praktisch von einem Tag auf den anderen gab es ein komplexes und kompliziertes Bauprojekt, zu dem zahlreiche Steinbauten, über hundert (bislang wiedergefundene) Satellitensiedlungen (Outlier) sowie ein gigantisches Strassennetz gehörten. Bis alles stand, müssen Generationen daran gearbeitet haben, Menschen, die ohne geschriebene Sprache auskamen. Erschwerend kam dazu, dass es sich um ein "Multikulti-Projekt" handelte, welches verschiedene Anasazi-Gruppen aus mehreren Regionen mit möglicherweise verschiedenen Sprachen unter einer gemeinsamen Idee vereinte.


Nichts wurde dem Zufall überlassen. Vom ersten Stein an waren die Great Houses exakt vorgeplant. Auch das Konzept für die gesamte riesige zu überbauende Fläche war von Anfang an da. Alles war nicht nur symmetrisch entworfen worden, sondern zudem noch so angelegt, dass sich Linien von Mauern, Bauten oder Baukomplexen ergaben, die nach astronomischen Daten ausgerichtet waren.


Der Archäologe John Stein sprach aus, was viele seiner Kollegen dachten: "Das Ganze mus eine absichtliche, intelligente Planung gewesen sein. Ein gigantisches, miteinander verwobenes, entworfenes und geplantes Bauprojekt. Alles befindet sich am genau dafür vorgesehenen und zuvor errechneten Platz." Unter Südwest-Archäologen war die Rede vom geheimnisvollen Masterplan - doch wer waren diese intelligenten und hochstehenden Masterplaner gewesen? Woher auf einmal diese erstaunliche Baulogistik von Menschen, die zuvor lediglich simple Grubenhäuser und primitive Erde-Stein-Mauern kannten? Diese einfachen Korbmacher sollen schlagartig hochentwickelte Architektur, Astronomie und Ingenieurkunst angewandt haben? Am meisten zu schaffen machte den Archäologen die Plötzlichkeit dieses Kultursprungs, der irgendwann kurz vor oder nach dem Jahr 800 stattfand.


Es begann mit drei Steinmetropolen


Alles begann sehr wahrscheinlich mit den drei Great Houses "Penasco Blanco", "Pueblo Bonito" und "Una Vida" im Chaco Canyon. Penasco Blanco wurde hoch oben auf dem Gipfel eines der drei Tafelberge an das nordwestliche Ende des Canyons erbaut. An der extrem unwirtlichen Stelle mussten erst erhebliche Mengen an Erde entfernt werden, um eine gerade Terrasse für den Bau zu erhalten. Die Baumeister und Planer mussten einen guten Grund gehabt haben, gerade hier einen Baukomplex entstehen zu lassen. Dieser Grund wird erst klar, wenn man die Lokalisation der drei Great Houses im Zusammenhang betrachtet.


Una Vida hätte - am gegenüberliegenden Ende des Canyons - auf einem vollkommen ebenen Abschnitt des Canyonbodens entstehen können, doch dies war offenbar nicht die richtige Stelle. Stattdessen wurde ein Platz daneben mit viel Mühe und Arbeitskraft begradigt und eingeebnet. Die Erdmenge, die bewegt werden musste, bevor der Bau überhaupt beginnen konnte, muss beträchtlich gewesen sein. Die Erbauer - oder Planer - wollten dieses Great House also genau an dieser Stelle haben. Warum?


Erst in den 1970er Jahren erkannten Archäologen aus dem Lager der Archäoastronomie, was diese beiden Great Houses wie auch viele andere verbindet und was den Chaco Canyon als Zentrum dieses Bauprojekts so einmalig macht. Penasco Blanco und Una Vida liegen am Anfang und am Ende einer geraden Linie, die genau dem Canyonverlauf folgt und - bis zum Horizont verlängert - zu den Punkten der sogenannten Mondwenden läuft.


(Mondwenden sind die Entsprechungen zu den Sonnenwenden; der Mond erreicht jedoch den gleichen Aufgangs- und Untergangspunkt nicht wie die Sonne einmal jährlich, sondern nur alle 18,6 Jahre einmal.)


Auf dieser Mondwendlinie liegt auch das dritte Great House: Pueblo Bonito. Es wurde etwa in der Mitte des Tals auf dem Canyonboden errichtet, direkt vor einem riesigen, bedrohlichen Felsblock, der jederzeit umzustürzen drohte. Doch auch dieser Bauplatz war so wichtig, dass genau hier die Strukturen errichtet wurden. Durch Pfosten, Mörtel und Mauerwerk versuchte man, den Felsblock am Platz zu halten. Schutzmassnahmen, die auch später während des gigantischen Generationen-Bauprojekts immer wieder erneuert und ausgebessert wurden. (Der riesige Felsblock - Threatening Rock - fiel erst 1941 auf die Ruine nach einen Jahr heftiger Regenfälle.)



Die Ruine des Great House Pueblo Bonito im Chaco Canyon





Die Ruine des Great House Penasco Blanco im Chaco Canyon


Astronomische Rätsel

Die genaue Positionierung der ersten drei Great Houses auf der durch den Chaco Canyon führenden Mondwendlinie ist typisch für den Gesamtplan des Chaco-Phänomens, und sie gibt gleichzeitig eine Antwort auf die Frage, warum ausgerechnet die unwirtlichste Ecke des Anasazilandes als Zentrum des Bauprojekts ausgewählt wurde: Eben WEIL gerade durch diesen einen Canyon eine astronomisch relevante Linie führt. Und nicht nur dies: Um ein winziges Stück verschoben führt auch noch eine Sonnwendlinie genau durch den Bergeinschnitt. Beide Linien sind nur wenige Grad voneinander entfernt. Zur Sommersonnenwende scheint die untergehende Sonne durch das Tal, während es zur Wintersonnenwende die aufgehende Sonne ist. Diese Linie ist gekennzeichnet durch eine bislang unausgegrabene sogenannte "Great Kiva" - einen grossen unterirdischen runden Raum - genannt Kin Nahasbas, liegend am Canyonende unweit von Una Vida, sowie das Great House Penasco Blanco.

Die genaue Ausrichtung zu astronomisch relevanten Punkten ist einer der grundlegenden Aspekte des Chaco-Phänomens und zeigt eine ganz neue Bauideologie. Immer wieder mussten Untergründe begradigt und Plattformen errichtet werden an Stellen, auf denen man sonst gar nicht hätte bauen können. Auch die Erreichbarkeit von Wasser spielte offenbar keine Rolle bei der Auswahl des Bauplatzes.


Alles zur selben Zeit

Dieser neue Chaco-Stil trat beinahe überall gleichzeitig auf. Während man im Chaco Canyon mit den ersten Great Houses begann, wurden gleichzeitig weit draussen im Land "Outlier"-Great Houses errichtet. Die Archäologen verzweifeln noch immer bei den Versuchen, die Spuren der strukturellen Wechsel von kleinen Grubenhaussiedlungen zu einer komplex organisierten Zivilisation mit Steinmetropolen, einem Strassennetz (das jedoch nicht als Verkehrswege diente) und einer völlig neuen Mauerwerktechnik mit bearbeiteten Steinen zu finden. Bisher war alle Suche vergebens. Für die Great Houses gibt es keine archäologischen Vorläufer. Das Chaco- Phänomen muss überall beinahe gleichzeitig angefangen haben. Es breitete sich nicht langsam aus, so ein Fazit der Forscher, sondern plötzlich tauchten diese neuen Bautypen allerorts auf: Great Houses, Great Kivas, grossartige Mauertechnik, vorgeplante Architektur und ein Masterplan, der alles miteinander zu einem Gesamtbild vereint.


Gab es eine "Zentrale", die vorschrieb, wie man ab sofort zu bauen hatte? Ja und nein. Denn neben den vom Bauprojekt betroffenen Plätzen wurde im einfachen, bisherigen Stil weitergebaut. Offenbar war das Chaco-Phänomen streng auf genau die Orte und Plätze limitiert, die zum Masterplan gehörten.





Skizze des Chaco Canyon mit den dortigen Great Houses


Untersuchungen und Forschungen des Solstice Project, einer interdisziplinären Gruppe von Wissenschaftlern mit Schwerpunkt auf Archäoastronomie sowie anderer Fachgebiete, enthüllten seit den 1980er Jahren verblüffende geometrisch-astronomische Muster im Anasazigebiet. Die Archäologen sprechen begeistert über "kosmische Landschaftsarchitektur" oder "Sonnen- und Mondgeometrie". Der Masterplan spiegelte im Grossen die Zyklen von Sonne und Mond wider. Nicht ein einziges Gebäude des Chaco-Phänomens steht ohne metrischen Grund an seinem Platz. Da gibt es allein im Chaco Canyon verschiedene Linien, die auf bestimmte Daten der Sonnenzyklen ausgerichtet, häufiger noch auf Mondzyklen hin angelegt wurden. Diese verbinden Great Houses mit Great Houses, Great Houses mit Great Kivas und überkreuzen sich zudem, dabei auch Outlier-Great Houses mit einbeziehend.


Kein Archäologe hat bisher eine Antwort auf die Frage gefunden, wozu all diese Linien angelegt wurden. Warum zum Beispiel hatte man Pueblo Bonito nicht genau auf dem Schnittpunkt der Nord-Süd-Linie (Pueblo Alto bis Tsin Kletzin) mit der Mondwendlinie (Penasco Blanco bis Una Vida) erbaut, sondern ein kleines Stück daneben? Auf dem Schnittpunkt ist - nichts! Wirklich? Ich war ein wenig überrascht, als ich feststellte, dass sich offensichtlich noch kein einziger Archäologe für die sich aus den Linien ergebenden Schnittpunkte interessierte. Und schon gar nicht wurde an einem der Schnittpunkte in der Erde gegraben. Sind diese Schnittpunkte nur imaginäre Punkte ohne Bedeutung? Oder verbirgt sich hinter ihnen etwas, auf das nur noch niemand gestossen ist?


(Zwischenbemerkung: Ich habe inzwischen eine Vermutung, was hinter diesen unsichtbaren Linien, die ich bislang in Mittelamerika und in Nordamerika bei mehreren Kulturen recherchierte und in Südamerika und anderswo bereits vermute, steckt und dass es möglicherweise einen Zusammenhang gibt zwischen den rätselhaften unterirdischen Materialdepots all dieser Kulturen und diesen Linien. Die Black Hole-Hypothese des Chaco-Phänomens mit der Massenanfertigung von Objekten, die allesamt ins Zentrum geschleppt aber nicht weitergeleitet wurden, könnte damit auch zu tun haben - doch hier muss ich mir diesen Aspekt der Anasazi noch einmal vorknöpfen, nachdem ich nun weiss, wobei ich hellhörig zu werden habe. Mehr dazu in einem noch zu schreibenden Artikel. 19.1.2009)


In diesen astronomischen Aspekt des Masterplans waren auch die Bauwerke selbst einbezogen. Etliche Great Houses waren mit ihrer geraden Seite genau nord-südlich ausgerichtet, andere mit der Hauptmauer west-östlich oder nach Sonnen- oder Mondzykluspunkten am Horizont. Diese astronomischen Daten wurden zudem noch mit bestimmten Fenstern und Türöffnungen betont, indem durch sie - und nur zu den entsprechenden Daten - Sonne oder Mond zu sehen waren.


Unter all diesen astronomischen Merkmalen des Chaco Canyon, der Great Houses, Strassen und der Kalenderarchitektur nimmt Fajada Butte eine besondere Stelle ein. Dieser einzeln stehende Felsmonolith am Eingang zum Chaco Canyon war für astronomische Beobachtungen hervorragend geeignet wegen seiner freien Sicht in alle Richtungen. Nahe des Gipfels lehnten die Anasazi drei Felsplatten so gegen die senkrechte Felswand, dass Licht und Schatten auf zwei dahinter in den Felsen geritzte Spiralen geleitet werden. So kann man darauf die Winter- und Sommersonnenwende, die Tages- und Nachtgleiche sowie die Mondwenddaten ablesen. Eine "aussergewöhnliche astronomisch-mathematische Meisterleistung", wie Anna Sofaer, die Leiterin des Solstice Project begeistert schwärmte.






Raffinierte Kalender-Petroglyph-Anlage auf Fajada Butte, Chaco Canyon

Inzwischen konnten auf Fajada Butte dreizehn weitere Kalenderfelsbilder gefunden werden, darunter eine kuriose Parallele zu dem "Lichtwunder" der Pyramide in Chichen Itzá (Mexiko), wo zu einem bestimmten astronomischen Datum ein schlangengleicher Schatten die Pyramide herabsteigt. Hundertmal kleiner zeigt eine in den Felsen von Fajada Butte eingearbeitete Schlange das gleiche Schauspiel: eine nahezu senkrechte 22 cm lange Schlange mit Kurvenverlauf zeigt zu Equinox und zur Sommersonnenwende ein Licht- und Schattenspiel. Zu Equinox erscheint ein Schatten entlang der Schlange und berührt dabei nach und nach alle Teile vom Kopf bis über den wellenförmigen Körper bis zum Schwanz des Tieren.


Und noch ein auffallendes Felsbild gibt es hier auf Fajada Butte: einen ins Felsgestein eingeritzten Grundriss von Pueblo Bonito, jedoch seltsamerweise spiegelverkehrt. Man erkennt die das Great House teilende Wand, den Platz, an dem sich Kiva A befindet, und den halbrunden Raumblock. Die Teilwand ist hier auf dem Felsbild ebenso exakt nord-südlich angelegt wie die des Great Houses. Am Punkt der Kiva A befindet sich im Felsbild ein kleines Bohrloch, von dem aus ein Stöckchen, am Tag der Sommersonnenwende während der Meridian-Passage der Sonne hineingesteckt, einen senkrechten Schatten genau entlang der radialen Linie des Grundrisses produzieren würde. Über dem Grundriss von Pueblo Bonito zeigt das Felsbild einen Pfeil und eine Spirale. Der D-förmige Grundriss des Great House ist auf dem Bild so dargestellt, als bilde er den Bogen des Pfeiles, und der Pfeil zeigt auf die Spirale. Will uns das Felsbild auf irgendetwas hinweisen?


Unpraktisch - aber gewaltig

Die Südwest-Archäologen rätseln noch immer über diesen unpraktischen Aspekt des Chaco-Phänomens. Sollten die Indianer all das nur erschaffen haben, um genaue Kalenderdaten für die Landwirtschaft oder für Riten zu erhalten? Daran glaubt fast niemand mehr. Nicht angesichts der übertriebenen und überladenen Astro-Architektur. Liegt uns hier vielleicht eine kodierte Botschaft vor, versteckt in den Linien und Schnittpunkten? Diese Great Houses und Linien sind nicht ohne Absicht, nicht aus purer Faszination für bestimmte astronomische Regelmässigkeiten in die Landschaft gesetzt worden.


Erschwerend kommen zur Lösung des Anasazi-Rätsels noch weitere mysteriöse Aspekte des Chaco-Phänomens hinzu. All die Great Houses und anderen Bauten machen den Eindruck, als habe hier jemand ausprobiert, wie man mit den an Ort und Stelle vorhandenen Materialien (und nur mit diesen) das Bestmögliche herausholen kann. Man versuchte, sich nacheinander an verschiedenen Great House-Grundrissen, baute in fast jedes Great House eine nur in diesem vorkommende architektonische Spezialität ein, testete verschiedene, aber ausgefeilte Mauerwerktechniken - manchmal mehrere an einer Stelle direkt nebeneinander wie Anschauungsobjekte. Früher angefangene Great Houses wurden in anderen Designs weitergebaut und die älteren Räume einfach mit Erde zugeschüttet, als hätten sie ihren Zweck bereits erfüllt. Erstaunlicherweise schienen diese späteren Baustilwechsel bereits von Anfang an mit eingeplant gewesen zu sein, so eines der überraschenden Fazits der Chaco-Archäologen.


Die zeitlich letzten Great Houses machen den Eindruck, als seien sie schnell und hektisch gebaut worden. Musste der Masterplan termingerecht fertig werden? Fest steht: Das Chaco-Phänomen hörte ebenso plötzlich auf, wie es begonnen hatte - vermutlich ca. 1150 n.Chr. (Neue Baumringdatierungen stossen dies Datum immer wieder um, ändern aber nichts mehr an dem ungefähren Zeitrahmen.)


Für wen erbaut?

Für wen war dies alles erbaut worden? Die Great Houses wurden nie richtig bewohnt und bezogen. Die ausführenden Anasazi-Arbeiter scheinen weiter in einfachen Grubenhäusern gehaust zu haben.


Ebenso rätselhaft ist der Zweck des umfangreichen Strassennetzes mit geschätzten 2400 Kilometern Ausdehnung. Die Archäologen konnten sich inzwischen zumindest darauf einigen, dass diese Roads nicht als Verkehrs- und Transportwege dienten. Sie scheinen überhaupt fast gar nicht benutzt worden zu sein, und es gab keine Ausbesserungsarbeiten. Sie machten den Eindruck, als seien sie so angelegt worden, dass sie gerade mal bis zum Ende des Bauprojektes hielten. Wozu ihre absolute Geradlinigkeit? Ihr "Luftlinien-Look"? Wozu ihr oftmals abruptes Ende im Nirgendwo?


Und wozu dienten die überhohen Räume zum Beispiel im Pueblo Alto, die zahlreichen Korridore und die sternförmig auf das Haus zulaufenden Strassensegmente? Dieses Great House, von dem 80% der Räume nachweislich nie benutzt wurden, lag inmitten eines chaotisch wirkenden Liniennetzes sich verzweigender Strassen, so wie auch etliche Outlier-Great Houses.


Die Black Hole-Hypothese

Seltsamerweise scheinen hier beim Pueblo Alto gelegentliche Zusammenkünfte stattgefunden zu haben, bei denen Unmengen Keramik an einer bestimmten Stelle zerbrochen wurde: alles in allem 86 148 Gefässe, deren Scherben aus einem Plattformhügel ausgegraben wurden. 90% des rätselhaften "Schutthaufens" wurden bislang noch nicht sondiert. Merkwürdigerweise wurden hier Gefässe zerbrochen, die im Durchschnitt nur in 17 Scherben zerfielen, während der Durchschnitt überall sonst im Anasazigebiet bei 63-138 Scherben pro Gefäss lag. An keiner anderen Stelle der Anasaziruinen jedoch wurden derart viele zerbrochene Gefässe gefunden. Was ereignete sich in Pueblo Alto vor 1000 Jahren? Verfiel ein ganzes Volk in eine "Polterabend-Manie"?


Und wohin verschwanden all die Materialien, die haufenweise (und nicht über die Roads) von all den Outlier-Siedlungen in den Chaco Canyon gebracht wurden? Archäologen tauften diesen rätselhaften Aspekt die "Black Hole"-Hypothese. Zuerst hatten viele Archäologen gemeint, die Great Houses hätten als Speicher- und Umverteilungszentren gedient. Doch immer mehr Belege wurden gefunden, die diese Hypothese umwarfen. Pueblo Alto vor allem schien als eine Art Sammelplatz fungiert zu haben für Waren, von denen ein Grossteil an Ort und Stelle verbraucht wurde. Die leeren Gefässe wurden zerbrochen und weggeworfen.


Doch wer soll dies getan haben? Die paar wenigen Bewohner des Great House? Pilger? Waren Pueblo Alto und die anderen Great Houses Kultanlagen, die zu bestimmten Zeiten von Pilgermassen aufgesucht wurden? Archäologen sind jedoch immer viel zu schnell mit der religiösen Erklärung zur Hand, wenn alles andere keinen Sinn ergibt. Auch andere Great Houses scheinen Waren aller Art "geschluckt" zu haben, um sie nicht wieder rauszurücken. So gut wie alles wurde - wie? - in den Chaco Canyon gebracht. Der Chaco Canyon wirkte dabei wie ein Schwamm, der alles aufsaugte und nicht mehr hergab.


Die Archäologen stehen immer wieder ratlos vor der unüblichen Konzentration von Dingen, die in den Great Houses gefunden wurden. War irgendwo ein Outlier fertiggestellt, so strömten sodann Waren herbei aus dessen Umfeld. Warum wurde all dies gehortet und nicht umverteilt? Anna Sofaer brachte die Erkenntnisse um die Great Houses auf den Punkt: "Die neuesten Forschungen zeigen, dass die Great Houses nicht primär erbaut wurden für einen alltäglichen Gebrauch." Das gilt auch für die Roads - und das ist denn auch schon alles, was man weiss.


Himmlische Kulturbringer

Die wichtigste Frage aber ist die: Wer waren die geheimnisvollen Masterplaner, die offenbar plötzlich da waren und den Masterplan fix und fertig vorliegen hatten? Sie waren in der Lage, Massen an Anasazi-Arbeitern zu mobilisieren, die ihre Grubenhaussiedlungen zu Beginn des Chaco Canyons für das Bauprojekt verliessen.


Man verdächtigte lokale Anasazi-Herrscher, Priester oder mesoamerikanische Auswanderer wie etwas die Tolteken als Initiatoren des Chaco-Phänomens, und man sah sich in zeitgleichen anderen Kulturen um, die als Auslöser des Kultursprungs in Frage kämen. Doch alle bisherigen Hypothesen und Vermutungen mussten verworfen werden. Den Masterplanern war bis heute nicht "auf die Schliche" zu kommen. Vertreter einer anderen Kultur konnten ebensowenig als Verursacher des Chaco-Phänomens verantwortlich gemacht werden wie die Anasazi selbst, die allenfalls als die unter Kontrolle wirkenden Arbeiter in Frage kamen.


Wer waren die wenigen Personen, deren ungewöhnlich grosse Skelette - im Vergleich zu den kleinwüchsigen Anasazi - man im Pueblo Bonito und im Outlier Aztec reich bestattet ausgrub? Wer also waren die Masterplaner?


Genau hier aber kann die Paläo-SETI-Forschung ansetzen. Denn sollte es nur ein Zufall sein, dass ausgerechnet nach dem Ende des Chaco-Phänomens in den Regionen rund um das alte Anasaziland mit einem Mal überall auf Felsbildern und Keramik Kachina-Motive auftauchten und Kachina-Rituale zelebriert wurden?


Da haben wir auf der einen Seite diese unbekannten, hochstehenden Verursacher des Chaco-Phänomens, die ebenso plötzlich auftauchten wie sie wieder verschwanden. Auf der anderen Seite existieren Überlieferungen über Kachinas, Kulturbringer "von den Sternen", die einige Zeit unter den Indianern gelebt und wieder fortgegangen sein sollen. Örtlichkeiten des Chaco-Phänomens kommen in den Überlieferungen über diese Kachinas immer wieder vor. Zudem tauchen auf Felsbildern der Zeit nach dem Ende der Anasazi-Kultur seltsame Sternenwesen auf. Warum hat hier noch kein Südwest-Archäologe einen Zusammenhang vermutet? Wenn also als Masterplaner keine andere bekannte Kultur und auch nicht die einfachen Grubenhaus-Anasazi in Fragen kommen - wer denn dann? Haben wir es hier mit einem Eingriff durch Vertreter einer fremden Intelligenz zu tun?


Peter Fiebag stellte bereits 1995 die These auf, zahlreiche Völker Mesoamerikas seien nach einem langfristig angelegten "Götterplan" zu bestimmten Orten gezogen, hätten dort grossartige Anlagen erbaut - astronomisch ausgerichtet -, die sie planmässig wieder verliessen, um einem übergeordneten Plan folgend neue Plätze anzuvisieren. Als Beispiel führte er unter anderem die Olmeken, die Maya, die Teotihuacanos, die Tolteken und die Azteken an, die alle einem fast identischen Schema wie die Anasazi gefolgt sind. Zudem weist Peter Fiebag auf mehrere Orte der Zuni und Hopi hin, an denen sie, den Anweisungen ihrer kosmischen Begleiter folgend, heilige Objekte vergruben. Waren diejenigen, die den Masterplan für die Anasazi ausarbeiteten, identisch mit denen, die überall auf dem amerikanischen Kontinent verantwortlich für eine unglaubliche Bautätigkeit und Wanderungsbewegung waren?

Als die Masterplaner nach dem abrupten Ende des Chaco-Phänomens verschwanden, waren die Anasazi wieder sich selbst überlassesn. Es begann eine Phase, die von den Archäologen mit dem "McElmo-Stil" identifiziert wird. In dieser Epoche begannen Anasazi-Gruppen, es sich in den verlassenen Great Houses und anderen Chaco-Bauten häuslich zu machen. Sie wurden zu Great-"Hausbesetzern". Sie veränderten hier und da Kleinigkeiten, fügten eigene, aber primitive Mauern hinzu oder füllten Chaco-Räume mit Abfällen, modelten Kivas um in solche nach eigenen Vorstellungen.

Doch die Phase währte nicht lange. Unvermittelt begannen die Anasazi allerorten sich in unzugängliche Felswände zurückzuziehen. Erst jetzt erbauten sie sie so berühmten "Cliff Dwellings" der Mesa Verde-Region. Auch anderswo wie in Cliff Palace oder Antelope House sehen wir ähnliches: alle Bauwerke sind mit primitivem Mauerwerk an unzugänglichen Stellen platziert und leicht zu verteidigen.





Typische Klippenwohnung der Anasazi aus der Zeit des Kollaps nach dem Chaco-Phänomen


An anderen Orten schloss man sich in grosse Defensivsiedlungen zusammen. Gemeinsam lebten die Nachfahren der frühen Anasazi-Kultur nun geschützt hinter Umfassungsmauern. Man begann, Türme en masse zu errichten. Um das Jahr 1200 herum schien jeder Anasazi in einem Defensivbau zu hausen. Doch vor wem oder was hatten sie Angst? Vor wem verschanzten sie sich? Ihre Angst war wohlbegründet, denn es setzte eine Zeit ein der Überfälle, blutigen Metzeleien und Kannibalismus. Zahlreiche Anasazi-Siedlungen wurden überfallen und niedergemacht. Die Leichen liess man entweder achtlos liegen oder sie wurden geröstet und verspeist. Wer waren diese Feinde?

Die Forscher haben auch auf diese Frage noch keine Antwort finden können. Es wurden weder fremde Waffen noch Anzeichen gefunden, die auf irgend ein anderes Volk hinweisen. Indianervölker wie die Navajo, Apachen oder Ute mussten als Angreifer wieder verworfen werden, weil diese erst sehr viel später in die von den Anasazi verlassenen Regionen einwanderten. Metzelten die Anasazi sich gegenseitig nieder? Auch das ist ungewiss. Fest steht nur eines: Reihenweise verliessen die Anasazi ihre Siedlungen und verschwanden aus der Geschichte. Spätestens im Jahr 1300 war das gesamte Anasazigebiet menschenleer. Ob die Pueblo Indianer wie Hopi, Zuni und andere deren Nachkommen oder die Nachkommen der Anasazi-Nachbarn darstellen, ist vollkommen unklar. Das Anasazi-Rätsel ist noch lange nicht gelöst.




Zwei Kachinafiguren der Pueblo Indianer - Erinnerungen an unbekannte Masterplaner?


Literatur:


Calogero, P.: Urban Genesis at Chaco. www.calogero.org/Urban/Origins


Fiebag, Peter: Der Götterplan. München 1995


Gabriel, K.: Roads to Center Place: A Cultural Atlas of Chaco Canyon and the Anasazi. Boulder 1991


Gwinn, V.R.: Chacoan Outliers: Form and Function. In: Glyphs, Vol. 50, Nr. 10, Tucson 2001


Kantner, J.: The Anasazi from A.D. 400 to A.d. 700. www.sipapu.gsu.edu/timeline/timeline400.html


Kantner, J.: The Anasazi from A.D. 900 to A.D. 1150. www.sipapu.gsu.edu/timeline/timeline900.html


Lekson, St.: Great Pueblo Architecture of Chaco Canyon, New Mexico. National Park Service 1984


Lekson, St.: The Chaco Meridian. Walnut Creek 1999, www.nps.gov/chcu


Schaafsma, Polly: Warrior, Shield and Star. Santa Fé 2000


Sofaer, A.: The Primary Architecture of the Chacoan Culture: A Cosmologian Expression. In: Anasazi Architecture and American Design. Albuquerque 1977


Sofaer, A.: Pueblo Bonito Petroglyph on Fajada Butte: Solar Aspects. In: Celestial Seasoning: Connotations of Rock Art. Papers of the 1994 International Rock Art Congress, ed. by E.C. Krupp 1994


Sofaer, A. / R. M. Sinclair / L.E. Doggett: Lunar Markings on Fajada Butte, Chaco Canyon, New Mexico. In: A.F. Aveni: Archaeoastronomy in the New World. Cambridge University Press o.J., www.solsticeproject.org/research


Sofaer, A. / R.M. Sinclair: Astronomical Markings at Three Sites on Fajada Butte. In: Astronomy and Ceremony in the Prehistoric Southwest. 1983. www.solsticeproject.org/research


Toll, H.W.: Making and Breaking Pots in the Chaco World. In: American Antiquity, Nr. 66, 2001. www.unm.edu/~fscott/473lab2.htm













Gisela Ermel:

Das Anasazi-Rätsel.

Masterplaner, Kannibalen und Kachinas: Auf den Spuren eines verschwundenen Volkes.

Bohmeier-Verlag, Leipzig 2005

ISBN 3-89094-448-5

200 Seiten, mit Abbildungen
















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