Dienstag, 13. Januar 2009

Poverty Point

Gisela Ermel


Rätselhafter Kultursprung


In: Q'Phaze, Nr. 11, Kassel 2008





Nordamerika vor gut 4000 Jahren: Über den Kontinent streiften kleine Gruppen von Jägern und Sammlern. Es war eine Zeit der Nomaden, der einfachen, mobilen Behausungen, der Steinwerkzeuge, Speerspitzen und Angelhaken. Es gab keinen Big Chief, sondern nur Sippengruppen mit losem Kontakt zueinander, die sich wenn irgend möglich aus dem Weg gingen. Stinknormale Steinzeit also.


Doch dann geschah etwas Ungewöhnliches. Auf einem Kliff - im heutigen Staat Louisiana - mit Blick über ein Flusstal versammelten sich urplötzlich Hunderte dieser Jäger und Sammler, um ein arbeitsaufwendiges, kompliziertes und vorgeplantes Grossprojekt zu verwirklichen. Dabei hätten sie es so einfach haben können. Diese Steinzeitmenschen profitierten im nahrungsreichen Flussgebiet zwischen den heute so genannten Flüssen Mississippi und Arkansas von langen frostfreien Perioden, von genug Regenfall und einer üppigen Vegetation mit Wäldern, kleinen und größeren Flüssen und Seen. Die Jäger fanden genügend Wildtiere, aus dem Wasser holte man Fische, Muscheln und andere Wassertiere in rauen Mengen. Den Speiseplan bereicherten zudem Pecannüsse, Hickorynüsse, Walnüsse, Eicheln, Persimonen, wilde Bohnen und Trauben, Wildpflanzen und stärkehaltige Samen - kurzum: man labte sich an allem, was lief, krabbelte, schwamm, buddelte und wuchs. Diese Steinzeitnomaden erfreuten sich um das Jahr 1700 v.Chr. einer ökologisch konstanten Umgebung mit reichen und vielfältigen Resourcen.


Anstatt so weiterzumachen wie bisher - und ein Erfolgsrezept ändert man nur im allerhöchsten Notfall - machten sie etwas, das es eigentlich gar nicht geben dürfte: einen Kultursprung. Sie entwickelten sich nicht etwa schön langsam und brav von Kulturstufe zu Kulturstufe weiter, wie es zu erwarten gewesen wäre. Statt dessen gab es einen kulturellen "Big Bang", einen plötzlichen Beginn einer hochentwickelten Gesellschaft, die ein unglaublich arbeitsintensives und komplexes Bauprojekt begann, für das das nötige Know how und die nötige Organisation und Kontrolle offenbar vom ersten Tag an voll entwickelt vorhanden waren.








Die archäologische Stätte Poverty Point aus der Luft fotografiert





Normalerweise bleiben Menschen Hunderte oder Tausende von Jahren auf derselben Kulturstufe stehen und ändern erst etwas, wenn sie dazu ein von ausserhalb kommender Impuls anregt oder zwingt. So ein Impuls kann ein drastischer Klimawechsel sein, dem man sich hinfort anzupassen hat, oder dies kann ein Kontakt mit Vertretern einer höher stehenden Kultur sein, von denen man sich inspirieren lässt oder deren Entwicklungshilfe einem zugute kommt. Ein plötzlicher Kultursprung aber, bei dem gleich mehrere Entwicklungsstufen ausgelassen werden, muss von etwas drastischerem als einem Klimawechsel oder dem Einfluss einer benachbarten höherstehenden Kultur ausgelöst worden sein.


Wer oder was veranlasste die Jäger und Sammler am heutigen Bayou Macon, sich zu versammeln und gemeinsam einen nach astronomisch-geometrischen Grundlagen entworfenen und vorgeplanten Komplex aus Erdwällen und Erdhügeln - Mounds - zu erbauen? Um bessere Unterkünfte in diesem Wild-Fisch- und Pflanzenparadies zu haben? Fehlanzeige. Das ist völlig ausgeschlossen, denn die Burschen hausten auch weiterhin in ihren primitiven Zelten und Hütten wie eh und je.


Die zentrale Struktur von Poverty Point (benannt nach dem Namen, den der erste europäische Landeigner seinem Grundstück gegeben hatte, auf dem sich die Reste der Anlage befinden) war ein halbkreisförmiger Komplex, bestehend aus sechs damals fast zwei Meter hohen Ringwällen. Noch bevor mit dem eigentlichen Bau der Anlage begonnen werden konnte, mussten zuvor unzählige Körbe voller Erde herangeschafft werden, um den Untergrund aufzufüllen und zu begradigen. Erst dann wurden die sechs Ringwälle erbaut, einer immer kleiner innerhalb der anderen liegend. Aneinandergereiht ergäben diese Wälle eine Länge von zwölf Kilometern.





Zeichnerische Rekonstruktion der Anlage von Poverty Point (Jon Gibson)





Diese sechs Wälle wurden durchbrochen von fünf Korridoren oder Gängen, die vom Zentrum aus nach aussen verliefen. Anfangs wunderten sich die Archäologen darüber, dass diese Gänge nicht symmetrisch angelegt worden waren; sie liefen nicht an einem gemeinsamen Punkt zusammen und sie teilten die Anlage nicht in gleich große Sektionen. Zuerst wurde vermutet, dass hier die Grenzlinien zwischen einzelnen sozialen oder anderen Zonen verliefen oder dass hier einfach nur Zufall gewaltet habe. Doch heute wissen wir, dass ein ganz anderer Grund hinter dieser so und nicht anders sorgfältig geplanten und vermessenen Anlage steckt. Die alten Skizzen und Karten aus der Zeit der ersten Forscher der vorigen Jahrhunderte hatten die Symmetrie übertrieben und mit den Massen gemauschelt, um eine nicht vorhandene Symmetrie vorzutäuschen bzw. einen hypothetisch regulären Plan der Anlage zu vervollständigen.


Alte Skizze der Anlage von Poverty Point




Auch die immer wieder geäusserte Vermutung darüber, dass der Komplex einst ein perfektes Oktagon oder eine perfekte Kreisform gebildet habe, die zerstört wurde, als der Fluss durch eine Verlagerung seines Wasserlaufes den Ostteil der Anlage fortspülte, konnte widerlegt werden. Eines der Ergebnisse der modernsten Ausgrabungen, Vermessungen und Dokumentationen zeigt ganz klar, dass hier alles so erbaut wurde, wie es ein ausgefeilter Plan vorgeschrieben hatte und wie es die modernen Ausgräber vorfanden.


Zur fertigen Anlage gehörten auch mehrere innerhalb und ausserhalb der Grundform liegende Mounds, darunter die beiden ersten sog. Bilderhügel Nordamerikas. Diese beiden Mounds stellten einen Vogel dar. Mound A erhob sich westlich der Ringwälle, mass ca. 210 Meter an der Basis und war mit über 21 Metern Höhe die höchste Struktur der Anlage. Aus der Vogelperspektive betrachtet sieht der Mound aus wie ein fliegender Mississippi-Milan mit einer Flügelspannweite von gut 200 Metern und einem aufgefiederten Schwanz. Der Vogel schaut nach Westen und wurde insgesamt in einer exakten West-Ost-Ausrichtung erbaut. Der zweite Vogel-Mound lag etwas über zwei Kilometer nördlich der Anlage, war gut 20 Meter hoch und stellte ebenfalls einen fliegenden Vogel dar, diesmal exakt nord-südlich ausgerichtet. Der Schwanz ist heute nicht mehr komplett erhalten.


In den 1970er Jahren begannen zwei Forscher mit Vermessungen und Berechnungen, um eine Hypothese zu überprüfen, die besagte, dass die Anlage von Poverty Point auf der Basis eines exakten astronomisch-geometrischen Layouts entworfen, geplant und erbaut wurde. Bislang war man lediglich über das hohe Alter von Poverty Point erstaunt gewesen - immerhin gut 4000 Jahre -, aber sollten so früh schon Menschen in Nordamerika astronomische Kenntnisse gehabt haben? Oder waren die Ringwälle doch bloss Fundamente gewesen für primitive Behausungen?


Nach ersten Vermessungen konnten Prof. William Haag und Kenneth Brecher belegen, dass zwei Gänge der Anlage direkt - vom Zentrum aus gesehen - auf einen Sommer- und auf einen Wintersonnenwend-Aufgangspunkt am Horizont zuliefen. Das konnte kein Zufall sein. Weitere Vermessungen ergaben, dass die beiden Bilderhügel in Vogelform exakt miteinander auf einer Linie lagen, die ebenfalls auf einen Sonnwendpunkt am Horizont zulief. Drei weitere Mounds der Anlage lagen miteinander auf einer Nord-Süd-Linie, die mitten durch den großen Vogel-Mound verlief. Von wegen Zufall! Jetzt erkannte man auch, warum die Gänge in den Ringwällen eben nicht symmetrisch angelegt worden waren, sondern so, dass sie dem astronomisch-geometrischen Layout entsprachen. Hier musste verdammt gut vermessen worden sein vor dem Bau.


Diese Forschungsergebnisse - das unerwartet hohe Alter und das vorgeplante Layout - machten Poverty Point zu einem großen Rätsel. Sollten hier wirklich primitive Steinzeitnomaden von einem Tag auf den anderen hochstehende Kenntnisse in Astronomie, Architektur, Vermessungstechnik, Organisation und Kontrolle gehabt haben? Welche aussergewöhnliche Kultur war dies gewesen, die diesen evolutionären Meilenstein initiiert hatte? Diese Kultur basierte auf hochstehender Ökonomie und Technologie - und dies ohne vorhergehende Entwicklungsstufen, die darauf hingeführt hätten. Hier wurde ganz klar ein Kultursprung gemacht, der unerklärlich ist. Poverty Point passt nicht zum Evolutionsmodell, das besagt, dass eine Kultur sich langsam, beständig und sicher fortentwickelt, von einfachen zu komplexen Formen. Doch so war es hier ganz und gar nicht gelaufen. Wer sollte diesen Kultursprung ausgelöst haben - und wie? Auch heute noch gibt es keine einzige moderne Jäger- und Sammler-Gesellschaft, die man mit der von Poverty Point vergleichen könnte. Poverty Point war einzigartig und einmalig. Eine Hochzivilisation - wie aus dem Nichts entstanden. Einer der Ausgräber der Stätte meinte einmal: "Nach herkömmlicher Lehrmeinung dürfte es Poverty Point überhaupt nicht geben!"


Wie also hatte es zu diesem Kultursprung kommen können? Der Archäologe Tristam Kidder, Leiter eines modernen Vermessungs-Projektes, stellte zwei Theorien betreffs dieser Frage vor:


Die erste war die konventionelle Theorie. Sie besagte, dass um ca. 1700 v.Chr. eine kleine Gruppe von Jägern und Sammlern in die Region gekommen war, eine Weile hier geblieben sei, ein wenig gebaut habe und dann weitergezogen sei. Dann sei eine andere kleine Gruppe hergekommen und wieder eine Weile hiergeblieben usw. Das sei wieder und wieder passiert, und so sei nach 600 bis 800 Jahren die Erdwerkanlage immer größer und größer geworden. Diese Theorie würde zum herkömmlichen Bild über Jäger und Sammler der Steinzeit passen und verlangt kein Umdenken. Dumm nur, dass die Ergebnisse der Ausgrabungen damit nicht übereinstimmen! Wie hätte sich auch auf diese Weise eine komplexe astronomisch-geometrisch ausgeklügelte Anlage ergeben sollen?


Die zweite Theorie war eine eher unkonventionelle und besagte, die Anlage sei innerhalb kurzer Zeit von einer sehr großen Anzahl von Menschen erbaut worden, die hervorragend organisiert gewesen seien. Doch für diese Theorie müsste man das Bild über die Jäger und Sammler der damaligen Zeit komplett ändern.


Konnte es noch eine andere Möglichkeit geben? War diese Kultur eine in situ-Entwicklung ohne äusseren Einfluss? Oder hatte es hier einen Auslöser von ausserhalb gegeben? Doch von woher sollte dieser Einfluss gekommen sein? Weit und breit gab es um diese Zeit keine Kultur, die Vertreter nach hier gesandt haben konnte, um einfache Jäger und Sammler eine solch ausgefeilte Anlage erbauen zu lassen. In Mittelamerika befanden sich die Menschen ebenfalls noch im Stadium einfacher Steinzeitbauern, während es in Südamerika zu dieser Zeit - ebenfalls wie aus dem Nichts - bereits aus Erde erbaute Erdwerkanlagen gegeben hatte, doch die ähnelten in keiner Weise der Anlage von Poverty Point, und irgendwelche Artefakte, die auf eine Verbindung zu Südamerika hinweisen konnten, gab es nicht. Es ist allerdings merkwürdig, dass etwa zur gleichen Zeit sowohl im Südosten der heutigen USA und in Peru urplötzlich monumentale Erdwerkanlagen erbaut wurden. Ein Zufall? Oder sollten hier in beiden Fällen die gleichen Kulturbringer gewirkt haben?


Wer waren die Entwerfer und die die Arbeiter anleitenden Masterplaner von Poverty Point? Sie mussten hervorragende Kenntnisse gehabt haben in Geometrie, Vermessungstechnik, Astronomie, Mathematik und Ingenieurtechnik. Wer überwachte das genaue Einhalten des Masterplans? Wer versammelte, organisiert und kontrollierte all die Arbeiter? Diese Arbeitermassen mussten delegiert und versorgt werden. Irgendjemand muss diese enorme arbeitsaufwendige Anlage gewollt und geplant haben. Es war sicher nicht leicht, eine solche Menge von Leuten zu einer Arbeit zu veranlassen, die derart weit über die alltägliche Notwendigkeit des Überlebens hinausging. Eine Steinzeitkultur, die auf Ökonomie und Technologie basierte, während rundum noch primitive Nomaden wanderten, muss ein hohes Mass an Administration gemeistert haben. Es reicht nicht, Bauwerke von Arbeitern herstellen und andere Leute Wild, Fische und Pflanzen heranschaffen zu lassen, all das muss gut geplant, organisiert und kontrolliert werden, damit die Produkte auch dahin kommen, wo sie gebraucht werden. Ein menschliches Werk solchen Ausmasses ist absolut nicht vorstellbar ohne eine straffe Organisation und Kontrolle, nicht ohne Logistik auf hohem Niveau.


Noch ein Fakt ist absolut rätselhaft. Kaum war die arbeitsaufwendige und komplizierte Struktur fertig gebaut, wurde alles stehen und liegen gelassen und die Leute wanderten erneut als primitive Jäger und Sammler durch die Lande. Nichts war hier zum Bewohnen erbaut worden. Es gab so gut wie keine Anzeichen bei Ausgrabungen, die darauf hindeuteten, dass auf den Ringwällen Hütten oder Wohnstätten gestanden hatten. Sie hatten also nicht als Basis für Behausungen gedient. Spuren von Wohn- und Werkstattbereichen hatten die Ausgräber statt dessen entlang des Kliffs zwischen den Ringen und dem einen Vogelhügel sowie zwischen den Ringen und einem weit ausserhalb gelegenen Mound identifizieren können, also nicht innerhalb der Anlage. Es ist auch völlig unbekannt, wie viele Menschen sich während des Baus dort aufhielten.


Zuerst hatte man anhand des vermuteten Arbeitsaufwands auf eine große Anzahl von Arbeitern oder aber auf eine sehr lange Bauzeit getippt. Hier waren viele Millionen Arbeitsstunden investiert worden - ein Generationenwerk? Wenn man davon ausgeht, dass die Arbeiter die Erde in Körben herbeitrugen (Tragetiere kannte und hatte man nicht), und dass die Körbe ein Fassungsvermögen von gut 50 Pfund Erde hatten, so wird offensichtlich, dass dies Unternehmen eine gigantische Leistung darstellt. James A. Ford, einer der dort tätigen Archäologen, errechnete, dass die Menge an Erde, die hier verbaut wurde, an Volumen grösser war als das der ägyptischen Pyramiden. Ein anderer Archäologe vermutete, dass hier gut 50 Millionen 50-Pfund-Korbladungen nötig gewesen seien, um die Anlage zu erbauen.
Diese gigantische Leistung wurde noch respektabler, als die Ausgräber herausfanden, dass die Anlage in relativ kurzer Zeit sehr rasch erbaut wurde. Der große Vogelmound z.B. war anscheinend innerhalb nur eines einzigen Jahres hochgezogen worden! Waren auch die anderen Strukturen der Anlage unter extrem straffer Organisation genau so schnell erbaut worden? Jon Gibson, einer der Ausgräber der Anlage, vermutete, dass der Komplex in weniger als einer Dekade erstellt worden sein musste, so das Ergebnis der Ausgrabungen. Hier waren nicht einfach nur unzählige Korbladungen Erde herbeigeschleppt und aufgehäuft worden, und das in Rekordzeit, sondern hier hatten hochstehende Vermessungs- und Ingenieurtechnik Stabilität und Belastbarkeit bzw. genaues Einhalten des Bauplans garantiert.
Warum war überhaupt eine so komplizierte Anlage erbaut worden? Auf den Mounds und auf der Plaza im Zentrum der Anlage hatten keinerlei Aktivitäten stattgefunden (zumindest keine, die Spuren hinterlassen hätten), auf den Wällen hatten keine Gebäude gestanden, es war nicht einmal Abfall zurückgelassen worden. War dies eine militärische Anlage gewesen? Dafür gab es keinerlei Hinweise. Oder war dies alles nur ein gigantischer Kalender? Doch wozu hätten Jäger und Sammler einen genauen Kalender gebraucht? Hier wurde ja nicht einmal Landwirtschaft betrieben.
Wenn Archäologen nichts mehr einfällt, so neigen sie in der Regel dazu, nach der guten alten Religions-Hypothese zu greifen. Tony Ortmann brachte dies auf den Punkt, als er schrieb: "Wenn du einen Archäologen vor eine Struktur stellst und er keine Ahnung hat, wofür sie diente, sagt er gewöhnlich, dies habe einem zeremoniellen Zweck gedient." James Ford spekulierte in diese Richtung, als er vorschlug, die Anlage könnte zu Ehren eines Gottes erbaut worden sein so wie die Kathedralen in Europa.
Das alles aber macht - noch? - keinen Sinn, denn es gibt ja nicht mal einen Hinweis darauf, ob die Menschen von Poverty Point überhaupt eine Religion hatten. Der Zweck der arbeitsaufwendigen und unpraktischen Anlage bleibt noch immer ebenso rätselhaft wie die Identität der unbekannten Masterplaner und der Fakt, warum alles nach Fertigstellung einfach verlassen wurde.
Es wird aber noch rätselhafter. Der Bau der Anlage war nicht das einzige arbeitsaufwendige Projekt, das hier von einem Tag auf den anderen begonnen wurde. Die Steinzeitmenschen - die nicht am eigentlichen Bau oder für die Nahrungsversorgung eingeteilt waren - tummelten sich in Freiluftwerkstätten, in denen sie wie am Fliessband schufteten. Bei Ausgrabungen wurden bisher Abertausende an Artefakten gefunden: schmuckartige Objekte, Werkzeuge, Waffen, pfeifenartige Objekte, Figurinen und mysteriöse Objekte aus gebranntem Lehm, die als Poverty Point Objects bekannt wurden. Zudem gab es noch Aussenstellen-Werkstätten in kilometerweiten Entfernungen, in denen ebenfalls diese Objekte massenweise hergestellt wurden.
Das Material für all diese Gegenstände stammte zum grössten Teil aus weit entfernten Gegenden in bis zu über 2500 km Entfernung. Man paddelte über Flüsse und Seen Hunderte von Meilen, um bestimmtes Steinmaterial zu holen, und brachte auf Landwegen unzählige Tonnen Material nach hier und in die Aussenstellen-Werkstätten. Zunächst hatten die Archäologen gemeint, diese Menschen hätten ein weitreichendes Handelsnetz betrieben, für das all die Sachen hergestellt wurden. Doch man musste vollkommen umdenken. Nirgendwo an den Orten, von denen Material hergeholt wurde, fand man Tauschobjekte, die dort gelassen worden wären, und auch sonst nirgends.
Es ist unglaublich, was hier in Poverty Point und den dazugehörigen Aussenstellen-Werkstätten alles in riesigen Mengen hergestellt wurde. Man sollte meinen, das Erbauen der komplizierten Anlage allein wäre schon arbeitsaufwendig genug gewesen.
Warum und für wen stellten die Leute so viel Schmuck her? Was hier an Perlen angefertigt wurde, ist unglaublich. Normalerweise werden Perlen aus relativ weichem Material hergestellt wie Seemuscheln, Eierschalen, Knochen, Elfenbein, Holz, Zähnen, Nüssen, Früchten und Samen. Ein einfaches Loch durch die Mitte gebohrt, etliche Perlen auf eine Schnur aufgereiht - und fertig! Doch was hier in Poverty Point passierte, stellt alles in den Schatten, was man bisher über die Herstellung von Schmuck prähistorischer Völker zu wissen meinte. Hier wurden in unglaublichen Mengen nicht einfache Perlen angefertigt, wie anderswo, sondern äusserst kunstvolle winzige Objekte aus Gestein in bildlichen Formen, darunter viele in Tiergestalt.
Einige wenige Beispiele der Steinperlen aus Poverty Point
So wie von einem Tag auf den anderen hier eine vorgeplante Anlage erbaut wurde, so wurden hier ohne vorherige Entwicklung ebenso plötzlich aus heiterem Himmel hochwertige stilisierte Miniatursteinperlen wie am Fliessband hergestellt, und das sogar aus hartem, schwierig zu bearbeitendem Material. Die Ausgräber staunten immer wieder bei jeder neuen gefundenen Perle oder jedem Anhänger über die bemerkenswert gute Bearbeitung.
Nun ist Schmuck nicht lebensnotwendig. Dennoch wurden zur Zeit von Poverty Point nicht nur hier vort Ort Perlen massenweise fabriziert, sondern es wurden auch noch in etlichen weiteren Werkstatt-Aussenstellen im Mississippi-Delta und an anderen Orten so viele Perlen hergestellt,, dass man von regelrechten Steinperlenwerkstätten sprechen muss. Es gab einfache Perlen aus Steinmaterial, zylindrische und scheibenförmige aus roten und grünen Steinen, aus Kupfer, Lehm und exotischem Gestein, es gab einfache röhrenförmige Perlen, die in unglaublichen Mengen hergestellt wurden, aber auch kunstvolle zoomorphe Formen wie Vogelköpfe, Frösche, Grillen, Bären und vieles andere mehr. Dabei machten es sich die Hersteller doppelt schwer, indem das Loch nicht etwa an der engsten Stelle durchborhrt wurde, sondern längst durch die lange Seite der Form, was enorm arbeitsaufwendig gewesen sein muss.

Eine der Perlen - genannt "The Little Bear" - aus Poverty Point
Die Ausgräber von Poverty Point fragen sich inzwischen, ob all die Tausende und Abertausende dieser Gegenstände wirklich als Perlen gedient haben mochten. Es wurde weder damit gehandelt, noch können die Leute von Povery Point beladen mit Hunderten von Perlenketten herumgelaufen sein (und das auch noch bei ihrem arbeitsreichen Leben). Noch dazu gab es ebenso viele Kettenanhänger.
Zum Herstellen der Perlen und Anhänger mussten zuvor zahlreiche Bohrer hergestellt worden sein. Und in der Tat fand man Mikrobohrer en masse, ganz besonders viele in der Aussenstellen-Werkstatt Jaketown, nördlich von Poverty Point. Hier hatten die Ausgräber so viele Mikrobohrer gefunden, dass sie meinten, diese Stätte habe keinem anderen Zweck gedient, als die Poverty Point-Leute mit genügend Bohrern für ihre Massenproduktion zu versorgen.
Darüberhinaus fertigten die Leute von Poverty Point Hunderte von Kegeln, Zylindern, Kugeln, Würfeln, Trapezoiden und andere geometrische Figuren aus Gestein an, und dies in solchen Mengen, dass ein Alltagszeck der Objekte nur schwer vorstellbar ist. War dies nur weiterer Schmuck? Oder hatten die Gegenstände eine symbolische oder religiöse Bedeutung? Und waren die riesigen Mengen der Objekte aus Gestein, die aussahen wie Pfeifen, wirklich als Pfeifen gedacht gewesen? Und wozu hatten die Arbeiter hier auch noch massenweise winzige Miniaturwerkzeuge hergestellt, quadi winzige Modelle der gewöhnlichen? Und wozu hatten die Speerspitzen gedient, die von so hoher Qualität waren und zu groß oder zu kunstvoll, um wirklich benutzt worden zu sein?
Und dann gab es noch die merkwürdigen Objekte, die aussehen wie Senkbleie. Auch diese wurden in wahren Mengen ausgegraben, hier und in etlichen der Aussenstellen-Werkstätten. Sie bestanden aus Eisenerz oder Gestein, waren extrem sorgfältig verarbeitet, aufwendig poliert und mit einem Loch versehen worden. Viele dieser unidentifizierbaren Objekte waren darüberhinaus auch noch dekoriert worden mit Punkten, geometrischen Mustern, Ringen unter dem Bohrloch oder Gravuren stilisierter Menschen und Tiere. Die Bedeutung dieser Artefakte ist bis heute völlig unklar. Waren dies nur Gewichte gewesen für Fischnetze oder Bolas? Oder gehörten sie an Wurfspeere? Oder ware es Fetische oder Talismane oder - wenn einem nichts anderes mehr einfällt kommt dieser Vorschlag ja irgendwann zwangsläufig ins Gespräch - Zeremonialobjekte?
Ebenso rätselhaft ist die einstige Bedeutung der Poverty Point Objects, auch bekannt als "clay balls" oder Lehmbälle. Allein in den wenigen Zonen von Poverty Point, wo bislang Ausgrabungen durchgeführt wurden - in einem winzigen Bruchteil der gesamten Stätte -, haben die Archäologen über vier Millionen dieser Lehmobjekte ans Tageslicht befördert. Es gab sie - und das ebenso massenhaft - auch wieder in den Aussenstellen-Werkstätten. Was aber waren sie?
Ein paar der rätselhaften Poverty Point Objects
Prof. Haag, einer der Ausgräber, nannte sie in den 1950er Jahren treffend "problematic Poverty Point Objects" - und seitdem ist man kaum schlauer geworden. Es sind nicht nur Bälle, und sie bestehen genau genommen auch nicht nur aus Lehm, sondern eher aus Schlick und Sand. Die Formen sind zylindrisch, kegelförmig, ballförmig und irregulär, manche haben ein Loch, die meisten jedoch nicht. Die kugelförmigen sind meist so gross wie eine Grapefruit. Auch hier weiss man nicht, wozu die Gegenstände gedient haben könnten. Waren sie bei der Nahrungsversorgung zum Einsatz gekommen anstelle erhitzter Steine? War hier eine neue Art der Essenszubereitung ausgedacht worden? Es hatte zwar archäologische Experimente gegeben, die dies belegen oder widerlegen sollten, doch zu einem schlüssigen Ergebnis war man nicht gekommen. Vor allem gab es einfach zu viele dieser clay balls - egal, welchen Gebrauchszweck man sich auch ausdachte. What ever: es war wie bei den Perlen, Anhängern, Steinobjekten und angeblichen Senkbleien: alles hier war einfach "too much"!
Das größte Rätsel um all die massenweise hergestellten Gegenstände von Poverty Point ist jedoch der Fakt, dass sie offenbar, anstatt gebraucht oder im Handel verwendet zu werden, systematisch unter der Erde vergraben wurden. Die Archäologen reden von "Opfern" oder von Depots und sind vollkommen ratlos.
Warum vergäbt man etwas? Mir fallen nur folgende Gründe ein: man will etwas für eine spätere Zeit sicher lagern - oder man will etwas verstecken. Dass hier Gegenstände an irgendwelche Götter geopfert worden sein sollen, halte ich für an den Haaren herbeigezogen. Wir wissen ja nicht einmal, ob die Leute von Poverty Point überhaupt irgendwelche Götter kannten.
Ob der von den Ausgräbern so genannte "fox god", ein mehrfach vorkommendes Ikonographie-Motiv, irgendeinen Hinweis auf einen Gott (oder einen Masterplaner?) darstellt, ist vollkommen unbekannt. Wir wissen nur, dass in Poverty Point mehrfach ein humanoides Wesen dargestellt wurde, das irgend etwas auf dem Kopf trägt oder hat.
Was die in riesigen Mengen hergestellten und dann systematisch vergrabenen Artefakte anbelangt, so muss man sich fragen, ob nicht Menschen, die eine so komplizierte geometrisch-astronomische Anlage erbauten, nicht für alles, was sie taten, vernünftige Gründe gehabt haben. In einem zukünftigen Artikel werde ich zeigen, dass das rätselhafte Vergraben unzähliger Artefakte bzw. das geplante Anlegen unterirdischer Materialdepots ein typisches Merkmal just der Kulturen ist, die mit einem unerklärlichen Kultursprung begannen - und ebenso abrupt wieder endeten, und das nicht nur in Nordamerika.
Was war Poverty Point? Ein Kultzentrum? Eine riesige Werkstätte? Eine Fabrik zur Massenherstellung von Gegenständen? Ein Materialdepot für irgendwann oder irgendwen? Ein riesiger Kalender mit vergrabenen Artefakten?
Auch das Ende von Poverty Point ist unerklärlich, da es plötzlich kam. Wohin verschwanden die Menschen? Die Anlage wurde, ebenso wie die Aussenstellen-Werkstätten, ganz einfach aufgegeben und verlassen, als haben sie ihren - uns unbekannten -Zweck erfüllt, als sei das Masterplan-Projekt abgeschlossen gewesen. Ein plötzlicher Beginn - und ein ebenso abruptes Ende! Poverty Point - ein noch immer ungelöstes archäologisches Rätsel!


Literatur:
Anonymus: Louisiana's 4000-Foot-Calendar. In: Science Digest, Juli 1982
Blum, Jordan: Team digs through Poverty Points Indian Moud.
Brecher, Kenneth / William G. Haag: Astronomical Alignments at Poverty Point. In: American Antiquity, Nr. 48, 1983
Crain, David A.: Texas Gulf Coast Poverty Point Culture.
Ford, James: Archaeological Suvey in the Lower Mississippi Alluvial Valley, 1940-1947.
Havard, Peabody Museum
Ford, James / Clarence Webb: Poverty Point, a Late Archaic Site in Louisiana. Hrsg.: American Museum of Natural History
Ford, James / Philip Philips / W.G. Haag: The Jaketown Site in West-Central Mississippi. Anthropological Papers of the American Museum of Natural History, Vol. 45, 1955
Gibson, Jon: Poverty Point. Department of Culture, Recreation and Tourism. 1966 www.crt.state.la.us/archaeology/povertypoi/culture
Gibson, Jon: The Ancient Mounds of Poverty Point. Gainesville 2001
Goldsmith, Sarah Sue: Poverty Point: Where History Lies Sleeping. In. Advocate Magazine, 26. Mai 1996, Baton Rouge
Jackson, H. Edwin: Trade and Exchange in Prehistoric Mississippi. 2000 www.mdah.state.ms.us/hpress/Trade_and_Exchange_in_Prehistoric_MS.pdf
Kidder, Tristam R.: The 1999 Poverty Point Mapping Project. New Orleans 1999
Lehmann, Geoffrey: The Jaketown Site, Surface Collections from a Poverty Point Regional Center in the Yazoo Basin, Mississippi. Hrsg.: Mississippi Department of Archives and History
Lynn, Andrea: Non-invasive tools key to first mapping of early Louisiana Culture. 2002 www.news.uiuc.edu/scitips/02/1201povertypt.html
Purrington, Robert D.: Supposed Solar Alignments at Poverty Point. In: American Antiquity, Nr. 48, 1983
Saunders, Joe W.: Speeding Ahead the Plow. 1996 www.cr.nps.gov/archaeology/cg/vol1_num1/speeding.htm
Schoenherr, Neil: Could Hunter-Gatherers habe been more sophisticated then we once thought? In: Record, Vol, 30, Nr. 10, 14. Oktober 2005, Washington University, St. Louis 2005
Toye, David L.: The Emergence of Complex Societies: A Comparative Approach. www.historycooperative.org/journals/whc1.2/toye.html

Mehr zum Thema:
Gisela Ermel:
Das Moundbuilder-Phänomen.
Ancient Mail Verlag, Gross-Gerau 2008
ISBN 978-3-935919-57-5
350 Seiten, zahlreiche Abbildungen









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